Interview mit Monika Treut
geführt von Doris Bandhold
Sie haben das »Projeto Uerê« in den letzten 15 Jahren mehrfach besucht und auch von Deutschland aus begleitet. Warum war es aus Ihrer Sicht gerade jetzt wichtig, die Arbeit von Yvonne Bezerra de Mello erneut zu dokumentieren?
Mein Film Kriegerin des Lichts, der die Gründerin des Projekts Yvonne Bezerra de Mello und die Anfänge ihrer Arbeit porträtiert, wird immer noch gezeigt und vor allem in den USA tauchte häufig die Kritik auf, dass das Projeto Uerê
mit seiner Gründerin steht und fällt und es untergehen würde, sollte Yvonne Bezerra de Mello krank werden oder gar sterben. Das hat mich immer geärgert, weil ich über die vielen Jahre sehen konnte, wie es gewachsen ist und sich immer professioneller aufgestellt hat. Außerdem sind alle Lehrerinnen gut ausgebildet, werden nach Tarif bezahlt und so hat sich über die Jahre eine Grundstruktur entwickelt, die das Projekt nachhaltig macht.
Der zweite Grund war, dass ich immer wieder gefragt wurde, was aus den Kindern geworden ist, die ich in Kriegerin des Lichts porträtiert habe – eine Frage, die auch mir sehr am Herzen liegt. Da das Projekt sehr groß geworden ist – mittlerweile werden rund 430 Kinder betreut – ist es fast unmöglich, den Weg der Kinder weiter zu verfolgen, nachdem sie ihre Ausbildung dort beendet haben. Viele ziehen um, ohne eine Adresse zu hinterlassen und es gibt in vielen Favelas auch keine Adressen im herkömmlichen Sinn.
Es ist mir über Umwege gelungen, einige Kinder von damals ausfindig zu machen. In Zona Norte sehen wir jetzt, dass sie zwar keine hochtrabenden Pläne realisieren konnten, aber dass die Kinder, die alle ursprünglich noch auf der Straße aufgewachsen sind, mittlerweile Jobs haben, dass sie gesund und selbstbewusst sind und ein Dach über dem Kopf haben. Das allein ist eine riesige Leistung, die durch ihre Zeit im Projeto Uerê
erst möglich wurde. Besonders interessant ist dabei auch, dass sie als junge Frauen jetzt sehr liebevoll mit ihren eigenen Kindern umgehen und versuchen, ihnen die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihnen selbst nie zu Teil wurde.
Das Projekt hat sich auch pädagogisch professionalisiert. Können Sie die besondere Methode, die Yvonne Bezerra de Mello entwickelt hat, kurz zusammenfassen?
Der wichtigste Punkt ist die Erkenntnis aus der Trauma-Psychologie, dass Kinder, die traumatische Erlebnisse hatten, diese verdrängen und deswegen auch keine Verbindung herstellen können zwischen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis. Dadurch ist ihre kognitive Fähigkeit, sich zu erinnern, gefährdet. Deshalb wird im Unterricht immer wieder die Erinnerung trainiert. Die Kinder erzählen, was sie kürzlich erlebt haben, um so die Verbindung zwischen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis zu stabilisieren. Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass die Kinder immer wieder bestärkt werden, dass sie nicht dumm sind, sondern etwas können und viele Talente und Fähigkeiten besitzen. Sport, vor allem Capoeira, und Musik spielen dabei eine wichtige Rolle. Seit einiger Zeit gibt es auch Geigenunterricht in Uerê. Spielerisches Lernen wird großgeschrieben: Lernstoff wird gemischt und spielerisch abgefragt: Die Kinder dürfen sich dabei bewegen, damit sie Spaß am Lernen haben.
Hierbei ist anzumerken, dass alle Kinder die staatlichen Schulen besuchen, die in Brasilien leider schlecht organisiert sind, weil die Lehrer schlecht bezahlt werden und die Klassen viel zu groß sind und dadurch auf die Kinder auch nicht eingegangen werden kann. Genau das ist im Projeto Uerê ganz anders. Es gibt sehr viel Wissen über die einzelnen Kinder und es wird sich persönlich um sie gekümmert. Die Mitarbeiter versuchen herauszufinden, welche Kinder weiter gefördert werden und auf weitergehende Schulen gehen können. Dazu gehören dann die Privatschulen. Für diese Kinder übernehmen die Spender die Schulkosten.
Yvonne Bezerra de Mello hat ein Buch darüber geschrieben, wie die einzelnen Schritte ihrer Methode ineinandergreifen, das bisher nur auf portugiesisch erschienen ist. Es wäre wunderbar, wenn dieses Buch auch in andere Sprachen übersetzt würde, weil die Methode nicht nur Kindern in Brasilien helfen kann, sondern auch traumatisierten Kindern auf der ganzen Welt. Wir erleben die Probleme hier mit den Flüchtlingskindern aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, die zusätzlich noch in eine andere Kultur kommen, lernwillig sind, aber wo sicherlich auch im Unterricht auf ganz andere Dinge Wert gelegt werden muss. Und in diesem Zusammenhang ist Yvonnes Pädagogik und auch ihr Buch, in dem sie die Erfahrung aus 30 Jahren Arbeit mit Straßenkindern und Favela-Kindern zusammenfasst, eine ausgezeichnete Grundlage.
Ein weiterer Aspekt der Professionalisierung ist die Finanzierung des Projekts. Wie gut ist es mittlerweile abgesichert?
Das Projekt finanziert sich nur aus Spenden. Die kommen von internationalen und brasilianischen Privatleuten und einigen Stiftungen und Firmen. Die Finanzierung muss jedes Jahr wieder neu erarbeitet werden. Es erfordert viel Arbeit hinter den Kulissen, diese Sponsoren zu behalten und mit Material zu versorgen.
Wie schwierig ist es für das Projekt – angesichts der bürgerkriegsähnlichen Zustände in den Favelas – den Kindern einen sicheren Raum zu bieten?
Für die Bewohner der Favelas gehören die Soldaten auf den Straßen mit den Gewehren im Anschlag und dem Finger am Abzug leider mittlerweile zum Alltag. Und natürlich gibt es immer wieder Schießereien und man weiß nie, wann es losgeht. Schießereien zwischen den Drogenbanden, die immer noch da sind, weil sie sich vom Militär nicht vertreiben lassen, und der Militärpolizei, die Angst hat, weil sie sich in der Favela nicht auskennt. Das ergibt eine sehr gefährliche Mischung und es hat Situationen gegeben, wo Militär und Drogenbanden direkt im Umfeld vom Projekt geschossen haben.
Die Kinder haben die Situation geübt und wissen, dass sie sich auf den Boden werfen müssen. Die Wände sind nicht besonders dick, so dass auch Kugeln durchschlagen können. Sie wissen auch, dass sie nicht draußen sein dürfen, wenn in unmittelbarer Nähe geschossen wird, sondern alle in die Klassen laufen müssen. Aber hundertprozentig schützen kann man die Kindern natürlich nicht, so wie man auch die Bevölkerung nicht schützen kann.
Es sind viele Menschen in den Favelas getötet worden. Die Vorfälle werden meistens nicht aufgeklärt, weil das Leben von Favela-Bewohnern kaum zählt und die Polizei entsprechend wenig nachforscht: verirrte Kugeln
sind meist die Todesursache. Viele Kinder werden beim Spielen verletzt, haben Arm- und Beindurchschüsse. Das ist einfach die traurige Realität.
Wie gefährlich waren die Dreharbeiten für Sie?
Ich hatte zwischendurch Angst um mein Team. Es gab auch eine Situation, in der sich unser Fahrer geweigert hat, anzuhalten, während sich das Militär in Bewegung setzte – was wir unbedingt drehen wollten. Er hat sich furchtbar aufgeregt. Im Nachhinein habe ich erkannt, dass er recht hatte, weil es viel zu gefährlich war. Es hätte jeden Moment eine Schießerei losgehen können und dann hätten wir mitten drin gestanden. In der Hitze des Drehs habe ich das nicht erkannt und war am Ende sehr dankbar für seine Weigerung.
Wir konnten das Militär auch nur drehen, weil wir langfristig versucht haben, mit einem Repräsentanten des Militärs ein Interview zu führen. Sie haben uns wochenlang hingehalten. Wir sind aber hartnäckig geblieben und irgendwann haben wir dann den Pressesprecher des Militärs vor die Kamera bekommen. Das hat uns bei der Drehgenehmigung geholfen, weil dadurch klar war, dass wir ein offizielles, ausländisches Team waren. In der Favela waren wir insgesamt relativ sicher, denn das Militär hat uns jeden Tag beim Reinfahren per Walkie-Talkie allen Einheiten angekündigt, sodass sie mit Schießereien vorsichtig waren.
Die Drogendealer wussten auch Bescheid. Sie sind sowieso sehr aufmerksam und registrieren sofort, wenn Fremde in ihrem Gebiet sind. Wir hatten nach einiger Zeit raus, welche der Jungs am Straßenrand für die Drogenbanden arbeiten und mussten dann anfragen, ob wir in einem bestimmten Bereich drehen dürfen. Einmal haben wir dann auch in einem sehr verwinkelten Teil der Favela gedreht, hatten es auch angemeldet, aber gingen nur noch eine Ecke weiter und plötzlich hatten wir zwei Drogenhändler vor der Kamera. Die Situation ist zum Glück nicht eskaliert. Ironischerweise war es gefährlicher in der reichen Südzone der Stadt: am letzten Drehtag wurden wir im Flamengo-Park von einem Crackhead überfallen. Er legte seine Pistole auf uns an und wir haben ihm schnell unsere Mobiltelefone und Rucksäcke überlassen. So eine Situation hat schon jeder Einwohner von Rio mindestens einmal erlebt.
Yvonne Bezerra de Mello ist in Brasilien lange für ihre Arbeit angefeindet worden. Wie hat sie es geschafft, endlich anerkannt zu werden?
Brasilien hat eingesehen, dass es einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften gibt und es wurde nach Ursachen gesucht. Es gibt große Probleme in den staatlichen Schulen. Gerade in den armen Regionen von Brasilien sind die Schulen schlecht ausgestattet und da können die Kinder ihre Lernblockade kaum überwinden. Yvonne hat ihr Projekt über viele Jahre offensiv vertreten, hat Interviews gegeben und Artikel geschrieben und hat sich dadurch einen großen Bekanntheitsgrad erarbeitet. Nach vielen Jahren wurde dann endlich auch zur Kenntnis genommen, dass die Arbeit von Projeto Uerê
erfolgreich ist. Schulleiter von staatlichen Schulen sind zu Yvonne gekommen und haben um Hilfe gebeten.
So kam es, dass der Bürgermeister von Rio schließlich vor einigen Jahren Yvonne beauftragt hat, Lehrer im Bundesstaat Rio weiterzubilden. Später ist sie dann auch in andere Gebiete von Schulen eingeladen worden bis hinauf zum Amazonas. Yvonne hat in Rio einen Preis für das beste soziale Projekt bekommen und wurde auch mit weiteren Auszeichnungen bedacht. Ihre Arbeit ist mittlerweile anerkannt, was nicht bedeutet, dass sie nun von der Elite geliebt wird, aber es wird zur Kenntnis genommen, dass sie Relevantes für die Kinder leistet.
Wie wirkt sich Olympia auf Rio aus?
Die Olympiade hat verheerende Auswirkungen auf Rio. Es wurde der Bevölkerung, die ursprünglich überwiegend Pro Olympia war, viel versprochen. So zum Beispiel, dass der öffentliche Verkehr, vor allem die Buslinien und die U-Bahn ausgebaut wird. Der Großraum Rio hat ein chaotisches Verkehrssystem: die wenigen großen Straßen sind ständig verstopft. Bisher hat die Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs noch nicht stattgefunden. Viele Bewohner wurden aus ihren Häusern und Wohngebieten vertrieben, wo Sportstätten gebaut werden sollten.
Einige Favelas wurden gegen die heftigen Proteste der Bewohner brutal abgerissen. Sie wurden zum Teil abgefunden und sollten weit außerhalb von Rio angesiedelt werden. In einer Favela, Vila Autódromo, die mittlerweile total zerstört wurde, haben bis zum Schluss noch Bewohner ausgeharrt. Aber letztendlich wurde alles platt gemacht. Auch die Mittelschicht leidet. Mittlerweile sind die Mieten dermaßen hoch, dass sich auch die Mittelschicht Wohnungen in Zentral-Rio überhaupt nicht mehr leisten kann. Der Immobilienspekulation wurde Tür und Tor geöffnet und die einzigen Gewinner sind Spekulanten und Baufirmen. Die Bevölkerung hat überhaupt nichts von der Olympiade.
Im Film erklärt der Wissenschaftler Christopher Gaffney, dass die brasilianische Gesellschaft aber auch eine positive, subversive Art hat, mit dieser Situation umzugehen?
Ja, es ist erstaunlich, dass es trotz der Repressalien und der wirklich harten Lebensbedingungen im Großraum Rio viele Projekte gibt, die wirklich menschlich, mit großer Wärme und großem Engagement durchgeführt werden. Darin steckt eine Hoffnung, die nicht nur, aber besonders eindringlich von Projeto Uerê
vertreten wird.
Mehr Infos über PROJETO UERÊ:
www.projetouere.org.br
Über die gemeinnützige Stiftung JAN-GROENWOLD-FOUNDATION kann in
Deutschland Uerê mit Spendenquittung unterstützt werden. Auch Stipendien
einzelner Kinder können über die Stiftung finanziert werden:
www.jan-groenewold-foundation.de